Aufgrund des Schlagwortes von der "ökologischen Krise" gehört es heute schon zum guten Ton, auf die Notwendigkeit einer kritischen Revision des gegenwärtigen Verhältnisses von Mensch und Natur hinzuweisen.
Mehr und mehr sehe ich im psycho-physischen Problem den Schlüssel zur geistigen Gesamtsituation unserer Zeit, und die allmähliche Auffindung einer neuen ("neutralen") psycho-physischen Einheitssprache, die symbolisch eine unsichtbare, potentielle, nur indirekt durch ihre Wirkungen erschließbare Realität zu beschreiben hat, erscheint mir auch als eine unerläßliche Voraussetzung für das Eintreten des neuen (...) heiros gamos 1
Wolfgang Pauli
Aufgrund des Schlagwortes von der "ökologischen Krise" gehört es heute schon zum guten Ton, auf die Notwendigkeit einer kritischen Revision des gegenwärtigen Verhältnisses von Mensch und Natur hinzuweisen. Abgesehen vom "ökologischen Umbau" der Industriegesellschaft und anderen sicherlich wichtigen und richtigen Schritten im Rahmen einer solchen Revision regt sich aber auch schon der noch zaghafte Hinweis auf die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Wandlung des modernen Bewußtseins im Verhältnis zur Natur, soll dieser Revision nicht nur ein substanzloser Pragmatismus und eine technisierte ökologie folgen.2 Das Spannungsverhältnis Mensch-Natur muß in diesem Sinne primär vom "psychophysischen Problem" dem Problem der Wechselwirkung von Geist und Materie her bedacht werden, einem der zentralen Probleme der europäischen Geistesgeschichte überhaupt und deswegen schon von Schopenhauer zutreffend als "Weltknoten"3 bezeichnet. Daß die moderne Wissenschaft eine derartig tiefgreifende Revision alleine nicht zu leisten vermag, läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr ernsthaft anzweifeln, geht doch mit dieser Wissenschaft als Erbin des Cartesianismus und Baconismus ein Naturver ständnis einher, das letztendlich mitverantwortlich ist für die verheerenden übergriffe des Menschen auf die Natur.4 Bezieht sich die moderne Naturwissenschaft von ihrer Konzeption her gesehen auf die natura naturata, auf die Natur als Produkt, so verweisen die Fragen, die durch die "ökologische Krise" aufgeworfen werden, vielmehr auf ein Denken, das im 20. Jahrhundert zwar eine grobe Vernachlässigung erfahren hat, das aber traditionell zuständig ist für das "psychophysische Problem" und die natura naturans die schaffende Natur-, nämlich auf das Denken der Naturphilosophie.
Die hierdurch gesetzte Aktualität von Naturphilosophie mag für viele befremdlich klingen, führt doch die Naturphilosophie seit dem Niedergang des Deutschen Idealismus zumindest im akademischen Bereich nur noch ein Schattendasein. Naturphilosophie ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr präsent, wobei die spekulativen Verirrungen der Romantik einerseits und der mit dem technologischen Fortschritt gekoppelte Siegeszug der Naturwissenschaften andererseits verantwortlich sind für den schlechten Leumund, den die Naturphilosophie seit dieser Zeit besitzt.5 Mögen auch die Naturwissenschaften und die Wissenschaftstheorie als die legitimierten Nachfolger der traditionellen Naturphilosophie im 20. Jahrhundert gewisse naturphilosophische Fragestellungen erfolgreich beantwortet haben, so bleiben jedoch bis zum heutigen Tage grundsätzliche Problemkreise offen, denen sich eine zeitgemäße Naturphilosophie unter primärem Bezug auf das "psychophysische Problem" erneut zu stellen hat.
Ideengeschichtlich gesehen, stellt die Naturphilosophie des Deutschen Idealismus die letzte große schöpferische Epoche naturphilosophischen Bemühens innerhalb einer Denktradition dar, die insgesamt einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrtausenden europäischer Geistesgeschichte umfaßt. Dabei wird modellartig vereinfacht die Entwicklungslinie der naturphilosophischen Tradition in drei klassische Zeitalter eingeteilt: die Epoche der Vorsokratiker, der Renaissance und der Romantik. Wie Karl Joël in seiner Studie Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik sehr eindrucksvoll nachgewiesen hat, rekurrieren die naturphilosophischen An sätze dieser drei klassischen Zeitalter auf ein zugrunde liegendes Zentralthema, nämlich auf die mystische Lehre von der Einheit der Dinge und der Allbeseelung, d.h. auf die Lehre von der Wesenseinheit von Gott, Seele und Natur.6
Das erste klassische Zeitalter der Naturphilosophie, das Zeitalter der vorsokratischen Naturphilosophie, wirft im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. erstmals die Frage nach dem Urgrund oder Ursprung der Dinge, der arche, auf. Eng damit verknüpft wird in dieser Geburtsstunde griechischen Philosophierens die zentrale Frage nach Werden und Vergehen. Die Reihe der be deutenden Naturphilosophen durchschreitend, entwirft Joël ein großartiges Bild der vorsokratischen Naturspekulation, indem er bei aller Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit der Denk- und Schulrichtungen dieses Zeitalters zwei konstituierende Elemente identifiziert: die griechische Lyrik und die orphische Mystik.7 Wird die Vorsokratik zwar als diejenige Epoche betrachtet, in der das griechische Denken den Umschlag vom Mythos zum Logos vollzieht und damit einer rationalen Wissenschaft den Boden bereitet, so übersieht die gängige Rezeption Joëls Interpretation zufolge den bisweilen versteckten mystischen Grundton dieser Epoche. Die Vorstellung einer Wesenseinheit von Gott, Seele und Natur in der vorsokratischen Naturphilosophie resultiert aus einer lyrischen, schließlich mystischen Betonung des Selbstgefühls und der Innerlichkeit, aus einer echt mystischen Erhebung alles Seelischen und Lebendigen überhaupt, einer Erhebung des Menschen zur Weltbedeutung, zum Mikrokosmos, kurz einer Vermenschlichung und damit Beseelung der Natur, und endlich aus einer stark zum Pantheismus bzw. Panentheismus neigenden Religiosität.8
Deutlicher als bei den Vorsokratikern tritt im zweiten klassischen Zeitalter der Naturphilosophie, in der Renaissance, das genetische Band von Mystik und Naturphilosophie hervor. Wie in der Vorsokratik liegen in der Renaissancephilosophie unübersehbar rationales Denken und mystische Einheitsschau nahe beieinander, berühren sich wissenschaftliches und reli giöses Denken noch unmittelbar. Was das Weltverständnis des Renaissancedenkens betrifft, so hat Michel Foucault in seinem Hauptwerk Die Ordnung der Dinge gezeigt, daß der Begriff der "ähnlichkeit" in der Konstitution des Wissens eine grundlegende Rolle gespielt hat.9 Die Sympathie aller Dinge, dieser Schlüsselbegriff der Renaissancephilosophie, beruht freilich ge nau auf jener Lehre, die in der Vorsokratik bereits bei Xenophanes vorgeformt war und die später durch die Stoiker zu der Vorstellung einer organischen Einheit des Kosmos, zu einer mit sich in allen Teilen sympathetischen Gesamtnatur weiterentwickelt wurde. Auch die von Anaximander, Heraklit, Empedokles, den Pythagoreern und den Atomisten formulierte Lehre, daß der Mensch ein Mikrokosmos im Makrokosmos sei, stellt zusätzlich einen prägenden ideengeschichtlichen Vorläufer des Sympathiegedankens dar, mit dessen Hilfe das Hauptproblem für die Naturphilosophie der Renaissance, die Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur, umkreist wurde.10 Es kann insgesamt daher auch nicht verwundern, daß die Lehre von der Wesenseinheit von Gott, Seele und Natur in der Naturmystik der Renaissance vorrangig von der Vorsokratik geprägt wurde bzw. von dort her auch ihre Anleihen bezog.11
Im dritten klassischen Zeitalter der Naturphilosophie schließlich, in der Romantik, treten erneut jene naturphilosophischen Fragestellungen auf, die eine Wiedergewinnung der einstmaligen Einheit von Mensch und Natur, allerdings auf einer höheren Ebene, zum Ziel haben. In einer Gegenbewegung zur bürgerlichen Lebenswelt, zur neuzeitlichen Naturwissenschaft mit ihrer eingeschränkten Form der Naturerkenntnis und zur Entzauberung der Natur tritt anstelle einer mechanistischen eine organische Weltbetrachtung. "Die schöpferische Natur wird zum Organismus und zum Künstler (...). In dem organischen Weltbild, aber auch in der Art, wie der Mensch in den Mittelpunkt der von Gott zu Gott führenden Weltentwicklung gestellt wird, liegen Gedanken, die die Denker der Romantik mit denen der Renaissance verknüpfen und ihren gemeinsamen Gegensatz zur Aufklärung, allgemeiner zur Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts bezeichnen."12 Im Gegensatz zu einem "Entwurf" von Natur, der auf eine allseitige Verfügbarkeit von Natur und ihre technische Bemächtigung durch den Menschen hinzielt, gründet das Naturverständnis der Romantik auf dem Glauben "an ein Verhältnis des Menschen zur Natur, das ebenso sehr vom Interesse des Menschen wie vom Interesse der Natur bestimmt wird, das weder abstrakte Naturerkenntnis noch praktische Ausbeutung der Natur ist, sondern eine Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur, in der ihr destruktiver Gegensatz überwunden wird, Mensch und Natur zu ihrer Identität finden wie ihre Gemeinsamkeit und beiderseitige Abhängigkeit begreifen der Geist naturalisiert und die Natur vergeistigt wird."13 Wie schon in der Renaissance bilden auch hier, bei Novalis, Goethe, Schelling und Carus, wissenschaftliches und religiöses Denken, die Naturwissenschaft und die mystische Lehre von der Einheit der Dinge und der Allbeseelung noch eine untrennbare Einheit. Es entspricht auch der inneren Logik von Joëls Argumentation, daß sich im sympathetischen Weltbild der Romantiker als Antwort auf die drängenden Zeitfragen des frühen 19. Jahrhunderts ebenfalls ein Rekurs auf die Naturphilosophie der Renaissance und der Vorsokratik spiegelt.14 Das "innere Triebwerk" der Natur, der "gebärende Urgrund" der Schellingschen Naturphilosophie sind dabei romantische Metaphern für das göttliche Eine, das als schöpferischer Wesensgrund in allen Dingen lebt, zugleich aber die AllEinheit ist, in der alle Dinge enthalten sind.15 Das hierdurch bezeugte panentheistische Naturverständnis sollte durch den rasanten Aufstieg der Naturwissenschaften, den diese durch einen Verzicht auf die genuine Fragestellung nach der natura naturans erkauft hatte, im Verlauf des 19. Jahrhunderts allerdings verdrängt werden und wanderte abgesehen von einigen Rudimenten, die sich nachher in der Wissenschaftshistorie ansiedelten an den geistesgeschichtlichen Rand ab.
Es gibt nun gute Gründe anzunehmen, daß die Traditionslinie des Panentheismus im 20. Jahrhundert erneut an Einfluß gewonnen hat, und das vorwiegend im außerakademischen Bereich. Das hiermit einhergehende Naturverständnis vermag uns daher heute bei der Etablierung eines vierten Zeitalters hilfreich zur Seite stehen und gestattet bei der Frage nach einer Aktualität von Naturphilosophie eine historische Rückbindung insbesondere an neuplatonisches All-Einheits Denken und an die mystische Formel des en kai pan, ein Rückgriff, der ohne Zweifel den Ergebnissen der heutigen Wissenschaften gerecht werden wie auch generell dem modernen Bewußtsein einsichtig sein muß.
Die bedeutendste und auch wirkmächtigste Strömung, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat und die bislang einen entscheidenden Beitrag zur Formulierung einer zeitgemäßen Naturphilosophie geleistet hat, ist die Analytische Psychologie von Carl Gustav Jung. In einer fast als tragisch zu bezeichnenden Verkennung des geistesgeschichtlichen Ortes der Tiefenpsychologie und daher ohne nennenswerte Rezeption sind ihre naturphilosophischen Aspekte bislang einer breiteren öffentlichkeit vorenthalten geblieben. Es bedurfte der Weitsicht eines Wolfgang Pauli, um diesen Ort das "psychophysische Problem" zu kennzeichnen, den Jung z.B. mit seinen Arbeiten zur Synchronizitätshypothese zu umkreisen suchte. In einem Brief vom 3. Juni 1952 an Markus Fierz schreibt Pauli über Jungs Aufsatz Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge: "So scheint mir das Kap. IV der Arbeit von Jung noch etwas anderes zu sein als eine 'Zusammenfassung': es erscheint mir als C. G. Jungs geistiges Testament, das von der speziellen 'analytischen Psychologie' wegdrängt in die Naturphilosophie im allgemeinen und das psychophysische Problem im Besonderen."16 Und in einem Brief an eine Mitarbeiterin von Jung, an MarieLouise von Franz, formuliert Pauli: "Ich vertrete die These, daß die Zukunft der Psychologie C. G. Jungs überhaupt nicht bei der Therapie und den ärzten liegt, sondern in die Naturphilosophie, d.h. jedenfalls in die philosophische Fakultät führt."17 Was Wolfgang Pauli hier als die "Zukunft" der Tiefenpsychologie ausweist, ist bei genauer Betrachtung jedoch schon inhärenter Bestandteil der Jungschen Psychologie.
So gibt es im Werk von Jung die vielfältigsten Rekurse (im Sinne von direkten Einflüssen) und Bezüge auf alle drei klassischen Zeitalter der Naturphilosophie. Schon auf den Begründer der ionischen Naturphilosophie, Thales von Milet, ergeben sich bei Jung indirekte Bezüge durch sein Studium alchemistischer Quellentexte, die nicht nur im Magnetismus eine Beseelung der Materie erblicken und sich dabei auf den Hylozoismus des Milesiers beziehen.18 Auch auf das Wasser, das nach Thales die arche aller Dinge ist, beziehen sich diese Quellentexte, die Jung beim Studium von gnostischen Symbolen des Selbst bemüht.19 So steht der Doktrin der Naassener zufolge die Schlange als Symbol für die zentrale göttliche Instanz, die allen Dingen zugrunde liegt und die alles enthält, und deren Charakteristikum sich in ihrer "feuchten Substanz" verdeutlicht. Damit fällt die gnostische Definition der Schlange auch zusammen mit der alchemistischen Anschauung des mercurius, welcher ebenfalls ein Wasser, nämlich die aqua permanens, "das Feuchte, das 'humidum radicale' (wurzelhafte Feuchte) und der Lebensgeist (spiritus vitae) ist, der nicht nur allem Lebendigen, sondern auch als Weltseele (anima mundi) allem Seienden innewohnt."20
Auch auf die Philosophie des Anaximenes, der die arche aller Dinge in der Luft -im pneuma - suchte, gibt es in Jungs Werk indirekte Bezüge, zumal die monistische Pneuma Lehre der Vorläufer einer bis tief in die Stoa tradierten Auffassung vom alles durchwaltenden pneuma war, das sich später in der christlichen Terminologie zum Heiligen Geist wandelte. Indem Jung den langen Weg der Geistsymbolik durch die abendländische Kulturgeschichte verfolgt, tauchen in seinem Werk der PneumaBegriff und dessen diverse historische Ausprägungen insbesondere dann auf, wenn Jung dem Gegensatzpaar GeistNatur und den jeweiligen Versuchen der Gegensatzvereinigung innerhalb der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins nachspürt.21
Für Pythagoras von Samos und seine Schule, auf die die PneumaLehre großen Einfluß hatte, ist die mathematische Zahl die arche aller Dinge, so daß der Kosmos und seine Ordnung in der Ordnung der Zahlen wiederzufinden ist, was letztlich in der Auffassung der Sphärenmusik und harmonie gipfelte. Es ist vor allem die pythagoräische Zahlensymbolik, auf die sich Jung bezieht, und speziell die symbolische Bedeutung der Drei und der Vier, der Tetraktys. Die Tetraktys enthält in der pythagoräischen Philosophie die Quelle und Wurzel der ewig sprudelnden Natur und ist die Grundlage allen Seins.22 In der Jungschen Tiefenpsychologie ist durch den universell vorkommenden Archetypus der Quaternität, wie er sich auch häufig in der Ganzheits symbolik der Träume von Jungs Patienten oder in der Mandalasymbolik manifestiert, jede Symbolik der Vierheit als Ausdruck von "Ganzheit" sowie deren Verhältnis zur Dreiheit, zur Trinität, von zentraler Bedeutung. In Bezug auf die Phänomenologie des Individuationsprozesses galt Jungs Interesse daher vorrangig der Wirkungsgeschichte quaternären Denkens, das sich von Pythagoras über die gnostische Philosophie und christliche Ikonologie bis hin zur Alchemie und der berühmten Kontroverse zwischen Johannes Kepler und Robert Fludd entfaltet hat und besonders für unser Jahrhundert aufgrund des "psychophysischen Problems" wieder von größter Tragweite ist.23
Sehr deutliche Rekurse gibt es in Jungs Werk auf Heraklit. Hier ist es vor allem dessen Begriff der Enantiodromie, den Jung zur Beschreibung der Struktur der Psyche und der selbstregulierenden Funktion der Gegensätze übernimmt. Enantiodromie bedeutet, daß jedes Extrem seinen Gegensatz im Keim enthält, d.h. die Verkehrung zum Beispiel eines extremen seelischen Zustandes in sein Gegenteil ein inhärentes Gesetz darstellt, so wie Heraklit es in Fragment 88 beschrieb: "Es ist immer ein und dasselbe, was in uns wohnt: Lebendes und Totes und das Wache und das Schlafende und Jung und Alt. Wenn es umschlägt, ist dieses jenes und jenes wiederum, wenn es umschlägt, dieses."24 Jung schreibt diesbezüglich: "Der alte Heraklit (...) hat das wunderbarste aller psychologischen Gesetze entdeckt: nämlich die regulierende Funktion der Gegensätze. Er nannte dies die Enantiodromia, das Entgegenlaufen, worunter er verstand, daß alles einmal in sein Gegenteil hineinlaufe."25 So läßt sich die Idee einer polaren Anordnung des Seins die Welt als "ein Gegensatzgemälde"26 als die ontologische Basis der Jungschen Tiefenpsychologie bezeichnen. Daran anknüpfend definierte Jung zur Beschreibung der empirischen Ablauf und Wirkungsgesetze psychischen Lebens seinen Begriff der Libido, die als psychische Energie, als Lebensenergie, das psychische System durchpulst und ihre Dynamik aus dem inhärenten Gesetz der Gegensätze bezieht. Aber nicht nur hier bei seinem Modell zur Energetik der Seele, sondern auch generell ist das Problem der Gegensätze und ihrer Vereinigung, das mysterium coniunctionis, in fast allen Werken Jungs das zentrale Thema überhaupt.
Auch zwei andere Kernbegriffe der herakliteischen Philosophie, das Feuer und der logos, erfahren in Jungs Schriften immer wieder eine ganz besondere Hervorhebung. Nach Fragment 30 ist die Welt für den Epheser ein "ewig lebendiges Feuer"27, wobei Feuer hier zu verstehen ist als ein Symbol der sich stetig erneuernden Lebenskraft. Das Feuer ist die arche aller Dinge, hier aber nicht etwa in einem stofflichen Sinne zu verstehen, sondern als Verwandlungsmetapher für das ewige Werden und Vergehen, genauer, "ein in sich zurücklaufender Kreisprozeß, an dessen Anfang und Ende (...) das alles verzehrende und neu aus sich gebärende Feuer steht."28 Auf eine ähnliche Symbolik stößt Jung bei seinen Studien der Alchemie; sie findet sich wie schon angedeutet auch beim alchemistischen mercurius, der zugleich Wasser, aqua permanens, und Feuer, ignis, versinnbildlicht sowie den spiritus vegetativus, der die ganze Natur belebend durchdringt, aber vermöge seiner feurigen Natur auch zerstört.29 Auch die Feuerzungen bei den im Vergleich zum mercurius - eher pneumatischen Darstellungen des Heiligen Geistes sind in diesem Kontext zu verstehen, ähnlich wie das apokryphe Christuslogion "Wer mir nahe ist, ist nahe dem Feuer".30
Das herakliteische Feuer, das sich stetige Verwandeln der Welt geschieht nach einem gesetzmäßigen Rhythmus - das Dauernde im Wechsel -, den der Epheser als die Vernunft der Welt, als Weltgesetz und Weltsinn, als , bezeichnet hat.31 In Jungs Werk taucht dieser Begriff mit einer doppelten Bedeutung auf, und zwar zunächst in der von Heraklit ursprünglich gemeinten Bedeutung von Weltmaß, von Weltvernunft, die sich in einer schillernden und komplizierten Wirkungsgeschichte z.B. zum christlichen LogosBegriff des Johannes-Evangeliums entwickelt hat. Zusätzlich zu seiner ursprünglichen Bedeutung erfährt der LogosBegriff jedoch bei Jung noch eine begriffliche Modifikation, deren Legitimation er in der psychologischen Praxis begründet sieht. Im Rahmen eines seelischen Prozesses, den Jung als Individuationsprozeß bezeichnet hat, stellt sich dem einzelnen nämlich die Aufgabe, dem gegengeschlechtlichen Anteil seiner eigenen Psyche zu begegnen und diesen bewußt zu machen. Als terminus technicus verwendet Jung hier für den gegengeschlechtlichen Anteil in der weiblichen Psyche den Begriff des Animus, für den gegengeschlechtlichen Anteil in der männlichen Psyche den Begriff der Anima. Synonym mit den Begriffen Animus und Anima gebraucht Jung auch oft die Begriffe Logos und Eros, wobei beim Mann der Eros, die Beziehungsfunktion, in der Regel weniger entwickelt ist als der Logos, bei der Frau das Bewußtsein mehr durch das Verbindende des Eros charakterisiert ist als durch das Unterscheidende des Logos.32 Genaugenommen handelt es sich bei der Beschreibung dieses Gegensatzpaares nicht mehr um philosophische Termini im strengen Sinn des Wortes, sondern um begriffliche Hilfsmittel, deren mythologische Ausdrucksweisen durch die Empirie psychischer Prozesse bestätigt werden, worauf Jung auch immer wieder hinweist. Was z.B. die Begriffsbildung des Eros betrifft, so bemerkt er, daß er diesen
mehr im Sinn eines empirischen Begriffs verwende(t), der beobachtbare psychische Tatsachen umschreibt. Natürlich habe ich den Ausdruck Eros nicht erfunden. Ich fand ihn bei Plato. Doch hätte ich ihn nie aufgegriffen, wenn die Beobachtung psychischer Vorgänge mir nicht gezeigt hätte, in welchem Sinn die platonische Vorstellung angewendet werden müsse. (...) Als ausgesprochener Empiriker gebrauche ich einen philosophischen Begriff nie um seiner selbst willen. Eros war für mich ein Wort, das etwas Reales und Beobachtbares bedeutet, aber sonst nichts. Als ich versuchte, den Grundzug männlicher Einstellung zu formulieren, fiel mir der Begriff Logos als passende Bezeichnung für die beobachteten Fakten ein. Und beidem Versuch, die Grundeinstellung der Frau zu umschreiben, kam ich auf das Wort Eros. Natürlich besitzt Logos als geistiges Element die Eigenschaft des Diskriminierens, wichtigste Grundlage jedes verstandesmäßigen Urteils. Eros ist seinerseits ein Beziehungsprinzip, und da ich einen Ausdruck für Bezogenheit suchte, bot sich natürlicherweise das Wort Eros an. Diesen Ausdruck habe ich von niemandem übernommen. Er entstammt meinem Vokabular und ich erklärte in unendlich vielen Worten, was ich darunter verstand, nämlich ein Prinzip der Bezogenheit.33
Jungs großes Verdienst war es, das Urphänomen der Gegensätze, dessen geistesgeschichtliche Linie sich über Meister Eckhart, Cusanus, Jakob Böhme bis hin zu Hegel, Goethe und Schelling entfaltet hat, von der Philosophie in die Psychologie übernommen zu haben. Neben den von ihm selbst dargelegten Rekursen sind inzwischen bereits eine ganze Reihe weiterer möglicher Entsprechungen und Beziehungen zwischen Heraklit und der Analytischen Psychologie beleuchtet worden. Garfield Tourney hat noch zu Lebzeiten Jungs argumentiert, daß der herakliteische Logos Begriff gewisse ähnlichkeiten zum Jungschen Begriff des kollektiven Unbewußten besitzt.34 So ist Fragment 2 zu entnehmen, daß der Logos als überpersönliches Prinzip das Weltgeschehen lenkt und regiert, also auch der Natur und dem Menschen immanent ist. Auch das kollektive Unbewußte zeichnet sich durch eine überpersönliche und universelle Charakteristik aus. Vom Standpunkt der Jungschen Psychologie aus gesehen, ist es sowohl im Naturgeschehen wie auch im Menschen am Werke. Zudem hat Tourney Heraklits Urfeuer mit Jungs Begriff der Libido verglichen.35 Unter Bezug auf Fragment 45 hat auch James Hillman, einer der führenden amerikanischen Jungianer, Heraklit als den ältesten Ahnherrn der Tiefenpsychologie gesehen. Und schließlich identifizierte Rudolf Bodlander ein Problem, an dem Heraklit und Jung ein gemeinsames Interesse teilen: das Phänomen des Bewußtseins und seine Beziehung zum Unbewußten.36
Auf die Philosophie des Empedokles gibt es bei Jung nur einige wenige indirekte Bezüge. Im Gegensatz zu Sigmund Freud, der seine Konzeption vom Lebens und Todestrieb, von Eros und Thanatos, direkt mit den zwei Grundprinzipien des Empedokles, mit Liebe (philia) und Streit (neikos) in Verbindung setzt, erscheinen in der Jungschen Psychologie nur sporadisch theoretische Hinweise auf die empedokleische Philosophie. Hier ist es vor allem immer wieder die Thematik der Vierheit, auf die Jung beim Studium alchemistischer Quellentexte trifft und die sich auf die Vier-Elementen-Lehre des Empedokles zurückführen läßt. So wie Empedokles von den vier Grundelementen Feuer, Wasser, Erde und Luft als die "vierfache Wurzel aller Dinge"37 spricht, so beschreibt die Alchemie die vier Elemente als radices, worin sie auch die Konstituentien ihres wichtigsten Symbols, des lapis philosophorum, erblickt.38 Und in Anlehnung an das empedokleische Symbol der Vollkommenheit der Welt, an den sphairos, veranschaulicht die Alchemie den lapis durch ein vollkommenes, lebendiges Wesen von hermaphroditischer Natur oder durch die Rundheit des piscis rotundus im Meer.39
Immer wieder findet sich im Jungschen Werk eine zentrale Argumentationslinie, die einen deutlichen Rekurs auf die Philosophie des Anaxagoras aufweist. Das die Stoffe bewegende und gestaltende Prinzip ist bei Anaxagoras der Geist, Nous, der als Weltbildner und lenker für die Schönheit und Harmonie des Kosmos verantwortlich zeichnet. Anaxagoras' NousBegriff ist die vierte Urform griechischen Geistes nach dem pneuma des Anaximenes, der GeistZahl der Pythagoreer und dem logos des Heraklit. Als die mächtigste Konzeption der abendländischen Weltgeistspekulation überhaupt wirkte die NousLehre nachhaltig auf Platon und Aristoteles wie auch auf die Gnosis. Durchdrungen mit Denkfiguren stoischer Provenienz und jüdischen bzw. christlichen Elementen erzählt das Grundmotiv der Gnosis vom Abstieg des göttlichen nous in die Physis und seiner Gefangenschaft in der äußersten Finsternis. Symbolisiert wird der nous bei gnostischen Sekten wie den Ophiten durch die Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Die Weisheit des in der Materie gebundenen und verborgenen nous findet ihre gei stesgeschichtliche Fortschreibung im mercurius der Alchemie, der als serpens mercurialis ebenso durch die Schlange symbolisiert wird. Jung beschreibt das Verhältnis des gnostischen nous zum alchemistischen mercurius wie folgt:
Die "kalte" Seite der Natur ist nicht ohne Geist, aber es ist ein Geist besonderer Art, welcher der christlichen ära als dämonisch galt und darum nirgends Anerkennung fand als im Gebiete nächtlicher Wissenschaften und Künste. Dieser Geist ist der schlangengestaltige Nous oder Agathodämon, der mit Hermes im hellenistischen Synkretismus zusammenfließt. Auch die christliche Allegorik und Ikonologie hat sich seiner bemächtigt, begründet durch Johannes 3,14: "Und wie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte, so muß der Sohn des Menschen erhöht werden". Der serpens mercurialis, der "Geist Mercurius", ist die Personifizierung und Fortsetzung jenes Geistes, der in dem (...) Gebet des Großen Pariser Zauberpapyrus (...) angerufen wird.40
Indem Jung die Begriffs bzw. Wirkungsgeschichte des göttlichen nous von der Antike über die spätantike Gnosis bis hin zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alchemie verfolgt, legt er in seinen Arbeiten die innere Verwandtschaft dieser Perioden des abendländischen Geistes dar. Von einem Rekurs Jungs auf den NousBegriff eines Anaxagoras kann in diesem Zusammenhang schon deshalb gesprochen werden, weil Jung die Linie dieser Begriffsgeschichte bis in unser Jahrhundert verlängert und sie vom psychologischen Standpunkt her neu faßt. Umgekehrt entspringt der Kontinuität dieser Linie die eigentliche geistesgeschichtliche Legitimierung der Analytischen Psychologie: "ohne Geschichte (...) keine Psychologie des Unbewußten"41. Jungs Identifikation des alchemistischen mercurius mit dem kollektiven Unbewußten bedeutet daher eine dem modernen Bewußtsein verständliche Verkleidung bzw. übersetzung des antiken NousBegriffes in die Sprache der Tiefenpsychologie.42 Das alles lenkende und alles durchdringende Wesen des nous und mercurius, sein weltschöpferischer Aspekt, findet sich schließlich auch genau dort, wo Jung vom psychoiden Charakter des kollektiven Unbewußten spricht, was bedeutet, "daß die Archetypen entsprechend der kosmischen Funktion des einen nicht psychischen (psychoiden) Aspekt besitzen müssen, der sie sogar als anordnende Faktoren im physikalischen ZeitRaumKontinuum erscheinen läßt."43
Thematisch sehr nahe am psychoiden Aspekt der Archetypen sind auch Jungs Rekurse und Bezüge auf das zweite klassische Zeitalter der Naturphilosophie, auf die Renaissance. Der Schlüsselbegriff der Renaissancephilosophie, die Sympathie aller Dinge, eröffnet hierbei ein weites Feld ideengeschichtlicher Vorläufer Jungscher Vorstellungen. Es ist hier vor allem die Arbeit Jungs an der Synchronizitätshypothese, die eine Erweiterung der Archetypenlehre in dem Sinne nahelegt, daß die Archetypen als anordnende Operatoren sowohl in der Psyche als auch der Physis vorauszusetzen sind. Zur Beschreibung einer akausalen Verbindung von psychischen und physischen Phänomenen, die durch einen gemeinsamen Sinn verknüpft sind, führte Jung den Begriff "Synchronizität" ein und erweitert damit seinen ursprünglich auf den psychischen Bereich bezogenen Archetypusbegriff um einen nichtpsychischen, d.h. psychoiden Aspekt. Die Ausdehnung des Archetypus in die Materie eröffnet freilich einen modernen Weg zur Beseeltheit der Materie und steht in engstem Kontakt zu der Idee der Allbeseelung. Erst vor der Folie des Renaissancedenkens wird eigentlich deutlich, wie sehr der späte Jung um den Versuch einer Neuformulierung der Idee der Allbeseelung gerungen und diesen der mechanistischen Zergliederung des modernen Bewußtseins entgegengehalten hat; er selbst beschreibt die Synchronizität als eine "moderne Differenzierung des obsoleten Begriffes der Korrespondenz, Sympathie und Harmonie."44 Als ein eminent wichtiger Kronzeuge sympathetischen Denkens in der Renaissance wäre in diesem Zusammenhang zunächst einmal Agrippa von Nettesheim zu nennen, auf dessen Korrespondenzidee sich Jung als Vorläuferin seiner Synchronizitätshypothese bezieht.45 In Agrippas Werk, das insgesamt den Versuch einer Synthese von magischem und christlichem Denken auf der Grundlage neuplatonischer Mystik unternimmt, entfaltet sich diese Idee in der Vorstellung vom Menschen als Mikrokosmos, dem das "große Prinzip" des mundus archetypus eingeschrieben ist. Agrippa von Nettesheim "teilt mit den Platonikern die Ansicht, daß den Dingen der unteren Welt eine gewisse Kraft (vis) innewohne, vermöge welcher sie zu einem großen Teil mit denen der oberen Welt übereinstimmten, und daß daher die Tiere mit den 'göttlichen Körpern' (das heißt den Himmelskörpern) zusammenhingen und mit ihren Kräften diese affizierten."46 Vermittelt durch die "Erleuchtung" der luminositas sensus naturae besitzen bei Agrippa alle lebenden Wesen und somit auch die Tiere ein "Vorauswissen", dem Jung inspiriert durch die Arbeiten des Biologen Hans Driesch ein "absolutes Wissen" im kollektiven Unbewußten zur Seite stellt, das das mikrokosmische Vorhandensein von makrokosmischen Ereignissen innerhalb von Synchronizitäten zu erklären vermag.
Unmittelbar von Agrippa von Nettesheim beeinflußt ist Paracelsus, auf dessen Weltbild es unübersehbare Rekurse bei Jung gibt. Allein die Tatsache, daß Jung dieser bedeutenden und wortgewaltigen Renaissancegestalt, deren Wirkkraft sich noch in Goethes Faust findet, mehrere ausführliche Studien und Vorträge gewidmet hat, deutet auf eine besondere Würdigung dessen geistesgeschichtlichen Ranges durch Jung wie auch auf eine gewisse geistige Verwandtschafthin.47 Natürlich ist Jungs Interesse am paracelsischen Weltbild zuallererst angeregt durch seine Studien zur Symbolik der Alchemie, aber es finden sich in den Lehren des Hohenheimer Meisters auch wirksame neuplatonische und gnostische Elemente, und überall dort, wo von der Korrespondenz zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos die Rede ist, tritt auch hermetisches Gedankengut zutage.48 Zusammen mit der Philosophie und der Ethik werden von Paracelsus die Alchemie und Astronomie, die zu dieser Zeit noch nicht von der Astrologie geschieden ist, als die vier Säulen einer Theorie der Medizin ausgewiesen; letztere erlaubt dem Arzt eine universelle Schau des Menschen und dessen Beziehung zu Gott und Schöpfung, wobei als Schlüssel dieser Schau die Vorstellung einer genauen Entsprechung von menschlichem Mikrokosmos und Makrokosmos, der Gesamtschöpfung, dient:
Das "innere Gestirn" des Menschen ist in seiner Eigenschaft, Art und Natur, in seinem Lauf und Stand gleich dem "äußeren Gestirn", verschieden allein in seiner Form und in seinem Stoff. (...) In ihm (dem Menschen; T. A.) liegt der "junge Himmel", d.h. alle Planeten sind dem Menschen eingebildet und sind Kinder des "großen Himmels", der ihr Vater ist. (...) Bedenket, wie groß und wie edel der Mensch geschaffen ist und in welcher Größe seine Struktur erfaßt werden muß! Es ist keinem Kopfe möglich, den Bau seines Leibes und das Maß seiner Tugenden auszudenken; nur als Abbild des Makrokosmos, der "Großen Creatur", ist er zu begreifen. Erst dann wird offenbar, was in ihm ist. Denn so wie außen, so auch innen; was nicht außen ist, das ist auch nicht im Menschen. Das äußere und das Innere sind ein Ding, eine Konstellation, eine Influenz, eine Konkordanz, eine Dauer ... eine Frucht.49
In seinem Vortrag Paracelsus als Arzt kommentiert Jung den geistigen überbau des paracelsischen Weltbildes daher wie folgt:
Aber nicht nur Alchemist soll der Arzt sein, sondern auch Astrolog. Denn eine zweite Erkenntnisquelle für ihn ist das Firmament oder der Himmel. Im "Labyrinthus medicorum" sagt Paracelsus, daß die Sterne im Himmel müssen "zusammen kuppelt werden" und der Arzt müsse "den Firmamentischen Sententz daraus nemmen". Ohne diese Kunst der astrologischen Konstellationsdeutung sei der Arzt ein "Pseudomedicus". Das Firmament ist nämlich nicht bloß der kosmische Sternhimmel, sondern ein corpus, welches seinerseits ein Teil oder Inhalt des sichtbaren, menschlichen Körpers ist. (...) Das firmamentische "Corpus" ist eine körperhafte Entsprechung des astrologischen Himmels. Und insofern die astrologische Konstellation die Diagnose ermöglicht, gibt sie zugleich den Hinweis auf die Therapie. In diesem Sinne liegt im Firmament auch die "artzney". Die ärzte "sammeln sich" um das firmamentische "Corpus" wie die Adler um das Aas, weil, wie Paracelsus mit nicht gerade schmackhaftem Vergleich sagt, das "ass des natürlichen liechts" im Firmament liege. Das "Corpus sydereum" ist mit andern Worten die Quelle der Erleuchtung durch das "lumen naturae", das "natürliche liecht", welches nicht nur in den Schriften unseres Autors, sondern auch in seiner ganzen Auffassungsweise die denkbar größte Rolle spielt. Die intuitive Formulierung dieser Anschauung ist (...) die bedeutendste geistesgeschichtliche Tat, um derentwillen niemand des Paracelsus unsterblichen Nachruhm neiden möge. Diese Anschauung wirkte zwar auf die Zeitgenossen und noch mehr auf die folgenden Generationen sogenannter mystischer Denker. Aber die in ihr schlummernde allgemeinphilosophische und spezielle gnoseologische Bedeutung hat ihre höchste Entwicklungsmöglichkeit noch nicht erfüllt. Die Zukunft wird davon noch zu reden haben.50
Das lumen naturae ist der zentrale Begriff überhaupt im paracelsischen Weltbild. Es entspricht dem in der Dunkelheit der Natur verborgenen Gottesfunken und stellt die zweite, mystische Erkenntnisquelle dar neben der heiligen Offenbarung in der Schrift. Für Jung besteht insofern ein Zusammenhang zwischen dem lumen naturae und dem mercurius, daß beide als historische Vorstufen des kollektiven Unbewußten zu betrachten sind.51 Er schreibt diesbezüglich:
Die Natur ist nicht nur Materie; sie ist auch Geist. (...) Das lumen naturae ist der natürliche Geist, dessen seltsames und bedeutendes Wirken wir in den äußerungen des Unbewußten beobachten können, seitdem die psychologische Forschung zu der Einsicht gekommen ist, daß das Unbewußte nicht bloß ein "unterbewußtes" Anhängsel oder gar eine bloße Abfallgrube des Bewußtseins, sondern vielmehr ein weitgehend autonomes psychisches System ist, das die Irrgänge und Einseitigkeiten des Bewußtseins zum einen Teil funktionell kompensiert, zum anderen Teil, und gegebenenfalls gewaltsam, korrigiert. Das Bewußtsein kann sich bekanntlich ebensowohl in die Natürlichkeit wie in die Geistigkeit verirren, was eine logische Folge der relativen Freiheit desselben ist. Das Unbewußte beschränkt sich nicht nur auf die Instinkt und Reflexvorgänge der subkortikalen Zentren, sondern reicht auch über das Bewußtsein hinaus und antizipiert in seinen Symbolen zukünftige Bewußtseinsvorgänge. Es ist daher ebensosehr auch ein überbewußtes.52
Für Paracelsus ist wie für jeden Alchemisten die Schöpfung noch nicht zu Ende. Der Mensch steht im permanenten Schöpfungsprozeß einer creatio continua und im Gegensatz zur christlichen Tradition, die den Menschen als den zu Erlösenden sieht, zu dem sich Gott im opus divinum hinabbeugt, begreift die Alchemie den Menschen als einen Erlöser, der in einem Auftrag zur Fortsetzung des göttlichen Erlösungswerkes, zur Entfaltung und zur Vollendung der Welt steht. Der wesentliche Grundsatz des opus alchymicum lautet demgemäß: "Was die Natur unvollkommen ließ, vollendet die Kunst."53 Auch im Kontext der Analytischen Psychologie steht der Mensch in einem ähnlichen Erlösungswerk, indem die Mitwirkung des Menschen an der Wandlung Gottes und an der Vollendung der Schöpfung hier auf das engste zusammenhängt mit dem zentralen Archetypus, dem Archetypus des Selbst. Das Selbst manifestiert und entfaltet sich im Individuationsprozeß des einzelnen wie auch in einem kollektiven Prozeß der Entwicklung und Differenzierung des Bewußtseins, der sich als "Individuation der Menschheit" bezeichnen läßt.54 Begleitet ist dieser sich über Jahrtausende hinziehende Prozeß von einer Wandlung des Gottesbildes: "Zuerst lebten die Götter in übermenschlicher Macht und Schönheit auf der Spitze schneebedeckter Berge oder in der Dunkelheit von Höhlen, Wäldern und Meeren. Später wuchsen sie zu einem Gott zusammen, und dann wurde dieser Gott Mensch."55 Dem modernen Menschen fällt, so das Fazit von Jungs Analyse biblischer Schriften und Dogmen, im Drama der Bewußtwerdung die Aufgabe zu, das in seiner Psyche konstellierte Selbst, das heute dem Gottesbild des Heiligen Geistes entspricht, auszudifferenzieren. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch psychologisch gesprochen, zwischen Selbst und Bewußtsein erfährt durch die Einwohnung des Heiligen Geistes im alltäglichen Menschen eine neue Qualität und sichert die Neubelebung des christlichen Mythus: "Die Weiterentwicklung des Mythus sollte wohl dort anknüpfen, wo der Hl. Geist sich an die Apostel austeilte und sie zu Gottessöhnen machte, und nicht nur sie, sondern alle anderen, die durch sie und nach ihnen die filiatio, die Gotteskindschaft, empfingen und damit auch der Gewißheit teilhaftig wurden, daß sie nicht nur autochthone, erdentsprossene animalia waren, sondern als zweimal Geborene in der Gottheit selber wurzelten."56 Psychologisch entspricht die Einwohnung des Heiligen Geistes im Menschen der Verwirklichung des Selbst im Individuum. Daß dabei die Synthese der Antinomie des Selbst, d.h. eine Versöhnung seiner Gegensätze, heute eine gewaltige Aufgabe darstellt, ist ohne weiteres für jeden verständlich, der die Dynamis und ungeheuerliche Gegensatzspannung dieses Archetypus erfahren hat: "In der Erfahrung des Selbst wird nicht mehr, wie früher, der Gegensatz 'Gott und Mensch' überbrückt, sondern der Gegensatz im Gottesbild."57 Um aus dem Unbewußten hervorzutreten und sich in der Individuation zu verwirklichen, bedarf das Selbst aber des menschlichen Bewußtseins, welches überhaupt erst den Akt des Erkennens setzt. Die überbrückung der dem Selbst immanenten Gegensätze und die damit einhergehende erneute Wandlung zu einem quaternarischen Gottesbild ist also ohne das Bewußtsein nicht möglich. Das hiermit gestellte Problem ist nach Jung die eigentliche kulturelle Aufgabe unserer Zeit. Die Mitwirkung an der Vollendung der Schöpfung, an der das Bewußtsein, wenn auch mit infinitesimalem Beitrag, teilhat, entspricht einem für viele Kritiker Jungs, insbesondere für die Theologen, anstößigen Gottesbild, in dem Gott den Menschen sucht, um in diesem seiner selbst und der Schöpfung bewußt zu werden.58 "Aber wo Gott am nächsten, ist die Gefahr am größten. Gott will werden in der immer höher steigenden Flamme des menschlichen Bewußtseins. (...) Deus et homo. Gott braucht den Menschen zur Bewußtwerdung, wie Er die Beschränkung in Zeit und Raum braucht. Seien wir Ihm darum Beschränkung in Zeit und Raum, irdische Umhüllung."59
Ein früher geistesgeschichtlicher Zeuge für den Versuch der Formulierung eines quaternarischen Gottesbildes ist für Jung der schlesische Schuster und philosophus teutonicus Jakob Böhme. Unter den zahlreichen Bezügen auf den Görlitzer, die sich in Jungs Werk finden lassen, tritt vornehmlich derjenige der Antinomie Gottes und ihrer Darstellung in Mandalastruktur hervor. Eher ein Erleuchteter denn ein Philosoph hatte Böhme in einer mystischen Vision das centrum naturae geschaut. Das gesamte Werk Böhmes ist durchzogen von der Frage nach der Bedeutung von Gut und Böse als den Strukturelementen alles Seienden und nach der Gegensatznatur des Gottesbildes:
Darinnen ich dann in allen Dingen Böses und Gutes fand, Liebe und Zorn, in den unvernünftigen Kreaturen als in Holz, Steinen, Erden und Elementen sowohl als in Menschen und Tieren. Dazu betrachte ich das kleine Fünklein des Menschen, was er doch gegen diesem großen Werke Himmels und Erden vor Gott möchte geachtet werden. Weil ich aber befand, daß in allen Dingen Böses und Gutes war, in den Elementen sowohl als in den Kreaturen, und daß es in dieser Welt dem Gottlosen so wohl ginge als den Frommen, auch daß die barbarischen Völker die besten Länder innehätten, und daß ihnen das Glücke noch mehr beistünde als den Frommen, ward ich derowegen ganz melancholisch und hoch betrübt und konnte mich keine Schrift trösten, welche mir doch fast wohl bekannt war; (...).60
Der Gegensatz von Gut und Böse ist nicht nur ein Grundzug des Menschen, sondern der ganzen Natur, ja der ganzen Welt. "Derselbe Gegensatz erfüllt die ganze Welt: er herrscht im Himmel wie auf Erden, und da alles nur in Gott seine Ursache haben kann, so muß er auch in diesem aufgesucht werden. Böhme dehnt die coincidentia oppositorum bis auf die äußerste Grenze aus, und er findet mit wohl kaum bewußtem Anschluß an Meister Eckhart den Grund der Dualität in der Notwendigkeit der Selbstoffenbarung des göttlichen Urgrundes. Wie das Licht nur an der Finsternis, so kann Gottes Güte nur an seinem Zorn offenbar werden."61 Der Görlitzer rang sich durch zu einer Auffassung Gottes als Einheit des Lichts und des Dunkels, des Zornes und der Liebe, des Guten und des Bösen. Eine ähnliche Auffassung vom deus absconditus klingt bei Jung in Antwort auf Hiob an, wenn er schreibt: "Gott hat einen furchtbaren Doppelaspekt: ein Meer der Gnade stößt an einen glühenden Feuersee (...). Das ist das ewige Evangelium (im Gegensatz zum zeitlichen): man kann Gott lieben und muß ihn fürchten."62 Die letzten, die großen Geheimnisse des Seins sind antinomisch, und bei Böhme wird das Urphänomen der Gegensätze ontologisch verankert. Bei Jung erfährt dieses Urphänomen eine psychologische Ausformung, in der letztlich auch ein Gottesbild zum Ausdruck kommt, das nichts mit dem "Gott der Philosophen" bzw. dem "Gott der Theologen" gemein hat, sondern mit dem lebendigen Gott der inneren Erfahrung, mit der Erfahrung des Selbst. Genau hier liegt heute der entscheidende Unterschied zwischen den quaternarischen Gottesbildern von Böhme und von Jung obwohl beide Bilder einem religiösen Erlebnis entspringen, obwohl beide näher an der Got tesvorstellung des Alten Testaments stehen als am summum bonum des christlichen Denkens, wird erst der moderne psychologische Standpunkt ein wissenschaftliches Instrumentarium bereitstellen, das mit Blick auf die Empirie des Individuationsprozesses eine Neuorientierung und damit ein tieferes, fundiertes Verständnis der Weiterentwicklung des christlichen Mythus ermöglichen kann. Diese Weiterentwicklung ist so Jung Jakob Böhme nämlich nur zum Teil gelungen.63
Was schließlich das dritte klassische Zeitalter, die Romantik, betrifft, so kann es keinen Zweifel daran geben, daß Jungs Werk von hier die stärksten Impulse erfahren hat. Natürlich muß bei einer Untersuchung der Rekurse und Bezüge Jungs auf die Romantik auch immer an den Umstand erinnert werden, daß sich die romantische Naturphilosophie zwar selbst durch Rückgriffe auf die beiden vorangegangenen Zeitalter der Naturphilosophie konstituiert, dabei aber die spezifischen historischen, sozioökonomischen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Traditionslinie naturphilosophischen Bemühens miteinbringt. Mit anderen Worten, die Romantik versucht die Frage nach der Wesenseinheit von Gott, Seele und Natur unter Berücksichtigung des Erkenntnis und Problemstandes ihrer Zeit zu einer umfassenden und erstmalig bei Schelling auch systematischen Naturphilosophie auszuarbeiten. Sie zeichnet sich aus durch eine stark gefühlsmäßige, an Verehrung grenzende Bindung an die Natur, aus der die lyrische Dichtung und die naturphilosophische Spekulation erwachsen, sowie durch die Suche nach dem geheimnisvollen "Grund" der Natur, den der Romantiker zugleich für das Fundament seiner eigenen Seele hält die schaffende Natur ist auch im Künstler tätig. Hieraus resultiert das Interesse der Romantiker an allen Manifestationen des Unbewußten, an Träumen und deren Symbolik, am Genie, an Geisteskrankheiten und Parapsychologie, zudem an Mythen und Märchen. Des weiteren betonen sie das Gefühl für das "Werden", darin sich das Individuum, die Gesellschaft, ja ganze Nationen und Kulturen, in einem Prozeß von Metamorphosen aus den Urprinzipien entwickeln und entfalten. Schließlich zeichnen sie sich aus sowohl durch ein höchst kultiviertes Einfühlungsvermögen gegenüber anderen Kulturen und Geschichtsperioden als auch durch einen stark ausgeprägten Individualismus.64 Es gibt angesichts der romantischen Betonung des Gefühls, des Gemüts und des Irrationalen daher bei Jung, und auch bei Freud, kaum ein tiefenpsychologisches Konzept, das nicht schon vom Programm der Romantik vorweggenommen worden wäre.
Natürlich muß hier zuallererst der Rekurs auf Johann Wolfgang von Goethe genannt werden, der von Jung als der Pate des eigenen geistigen Koordinatensystems bezeichnet wird.65 Was das Denken Goethes betrifft, so besitzt es, wie Ernst Bloch herausgearbeitet hat, selbst eine maßgebliche RenaissanceDimension. Sehr früh, um 1769, hatte sich Goethe, ausgelöst durch einen schweren physischen Zusammenbruch, intensiv u.a. in die Schriften von Paracelsus vertieft wie auch selbst alchemistische Versuche unternommen, was sein späteres Verständnis von Naturgeschehen nachhaltig inspirieren sollte. Zudem ist sein Werk unübersehbar von Giordano Bruno und Jakob Böhme, aber auch durch Rekurse auf die Vorsokratik, auf Heraklit, geprägt. Neben der Vorstellung eines sympathetischen Weltzusammenhangs begegnet man deshalb gerade in Goethes Spätwerk, das freilich auch durch die Naturphilosophie von Schelling beeinflußt ist, dem Prinzip des Widerstreits der Gegensätze, dem Prinzip der Polarität, das zusammen mit dem Prinzip der Steigerung dem Naturgeschehen in einem dynamischen Werdeprozeß eine quantitative und qualitative Aufwärts und Höherentwicklung verleiht. Polarität und Steigerung sind ihm die zwei großen Triebräder aller Natur. Im Werdeprozeß hier wird der "statische" Spinozismus durch Goethe "dynamisiert" ergießt das göttliche AllLeben den unendlichen Inhalt seines Wesens in die Fülle individueller Gestaltungen und entfaltet sich in der anorganischen und organischen Welt. Nicht einem außerweltlichen, personal zu denkenden Gott, einem Gott, "der nur von außen stieße", gilt Goethes Interesse, vielmehr sucht er das Göttliche in den mannigfaltigen Gestaltungen der Natur, also in herbis et lapidibus, und eine ähnliche Vorstellung von der Entfaltung eines schöpferischen Prinzips klingt auch bei Jung an, wenn er in einem Brief schreibt: "Das innerste Selbst jedes Menschen und Tieres, der Pflanzen und Kristalle ist Gott, aber unendlich vermindert und seiner schließlichen individuellen Gestalt angeglichen."66
Obwohl der zentrale Begriff der Analytischen Psychologie, der ArchetypusBegriff, eine Geschichte besitzt, die sich bis zum platonischen zurückverfolgen läßt, hat natürlich auch Goethes Konzeption des "Urphänomens", z.B. der Urpflanze, direkt auf die Genesis von Jungs Archetypus-Begriff gewirkt. Zwar ist und darauf muß zur Vermeidung von Mißverständnissen immer wieder hingewiesen werden der ArchetypusBegriff als psychologische Entsprechung des philosophischen EidosBegriffs zu verstehen, aber erst mit Blick auf Goethes morphologische Methodik in der Biologie und seiner Suche nach der Urpflanze bzw. dem Urtier erklärt sich auch der morphologische Ansatz Jungs bei der Erforschung von Träumen und anderen Manifestationen des kollektiven Unbewußten, ein Ansatz, der eine tragende Rolle bei der Formulierung der Archetypenlehre innehatte.
Auch wenn sich Jung in seinem Werk als profunder Kenner des gesamten Goetheschen Universums ausweist, so kristallisiert sich doch immer wieder der unmittelbare Einfluß des Faust heraus; außer Nietzsches Zarathustra hat kein Werk der Weltliteratur einen größeren Einfluß auf das Jungsche Denken gehabt als Goethes Faust. Schon in seiner Jugend war Jung dem Faust begegnet und in jedem wichtigen Werk von Jung schlägt sich auch die Auseinandersetzung mit diesem Buch nieder.67 Angesichts der Vielfalt der Jungschen Beziehungen zum Faust würde es den Rahmen der vorliegenden Studie jedoch weit überschreiten, auf alle Querverweise Jungs en detail einzugehen. In summa aber besteht der geistesgeschichtliche Rang des Faust für Jung darin, daß dieser ein "alchemistisches Drama von Anfang bis Ende"68 darstellt, wobei dieses Drama schlußendlich seinen "Gipfel in der Gestaltung von Goethes religiöser Weltanschauung, wie sie uns im 'Faust' erscheint"69, erreicht. Die Alchemie erklimmt
noch eine letzte Höhe und damit den historischen Wendepunkt in Goethes "Faust", der von Anfang bis Ende mit alchemistischen Gedankengängen durchtränkt ist. Was im "Faust" geschieht, drückt sich wohl am deutlichsten in der ParisHelenaSzene aus. Für den mittelalterlichen Alchemisten hätte diese Szene die geheimnisvolle "coniunctio" von Sol und Luna in der Retorte bedeutet; der Mensch der neueren Zeit aber, verkleidet in der Figur des Faust, erkennt die Projektion und setzt sich an Stelle des Paris oder Sol und bemächtigt sich der Helena oder Luna, seines inneren weiblichen Gegenstückes. (...) Dadurch, daß sich Faust mit Paris identifiziert, zieht er die "coniunctio" aus der Projektion in die Sphäre persönlichpsychologischen Erlebens und damit in das Bewußtsein. Dieser entscheidende Schritt bedeutet nichts weniger als die Auflösung des alchemistischen Rätsels und damit auch die Erlösung eines bis dahin unbewußten Persönlichkeitsteiles. Jeder Zuwachs an Bewußtheit aber birgt die Gefahr der Inflation in sich. Im übermenschentum Fausts tritt sie uns deutlich entgegen. Faustens Tod ist eine zeitgeschichtlich bedingte Notwendigkeit, aber keine genügende Antwort. Die Geburt und die Wandlung, welche auf die "coniunctio" folgen, sind im Jenseits, das heißt im Unbewußten verlaufen.70
Das Problem wird so Jung wieder in Nietzsches Zarathustra aufgenommen. Die Wandlung zum übermenschen, "welchen er (Nietzsche; T. A.) aber in gefährlichste Nähe des diesseitigen Menschen rückte"71, kommt dabei einer Hybris des individuellen Bewußtseins gleich. Auf den Individualismus des übermenschen antwortet die nachfolgende Zeit aber mit einem Kollektivismus und der Tendenz der Vermassung: "Erstickung der Persönlichkeit einerseits, ein ohnmächtiges, vielleicht tödlich verwundetes Christentum anderseits: das ist die ungeschminkte Bilanz unserer Zeit."72
Polarität und Steigerung der Einfluß von Friedrich Wilhelm Schelling, dem Feuerkopf der romantischen Naturphilosophie, auf Goethes Naturverständnis kann nur schwerlich überschätzt werden, er garantiert den Naturstudien Goethes sozusagen den philosophischen Unterbau. Gemeinsam sind darum beiden, dem Philosophen und dem Poeten, Begriffe wie GottNatur, Weltseele, Allbeseelung oder der OrganismusGedanke. Natürlich ist auch Schelling stark vom Neuplatonismus, von Plotin und von Jakob Böhmes Naturphilosophie und Theosophie inspiriert; des weiteren spielt das Weltbild des Nolaners eine einflußreiche Rolle in Schellings Denken. Obwohl in Jungs Werk nur sporadisch auf Schellings Werk Bezug genommen wird, und dies vorwiegend im Kontext der historischen Entwicklung des Begriffs des Unbewußten, hat Rolf Fetscher eine Reihe von übereinstimmungen zwischen den tiefenpsychologischen Konzeptionen und den Gedankengängen in der Philosophie Schellings untersucht und herausgestellt.73 Zuerst ist natürlich die Vorstellung einer polaren Anordnung des Seins zu nennen, die das Grundprinzip von Schellings Naturphilosophie darstellt: "Es ist erstes Princip einer philosophischen Naturlehre, in der ganzen Natur auf Polarität und Dualismus auszugehen."74 "Ein solcher Dualismus aber muß angenommen werden, weil ohne entgegengesetzte Kräfte keine lebendige Bewegung möglich ist. Reelle Entgegensetzung aber ist nur da denkbar, wo die Entgegengesetzten dennoch zugleich in einem und demselben Subjekt gesetzt sind."75 Sein psychologisches äquivalent findet diese Aussage Schellings in der Jungschen Vorstellung der Welt als "Gegensatzgemälde", derzufolge alles Seiende sich durch Gegensätze konstituiert und nur aus der Gegensatzspannung die Energie alles Lebendigen, die Libido, entspringt, ohne die der Begriff der Entwicklung nicht denkbar ist.
Das Grundprinzip der Polarität trägt Schelling hier wird der Einfluß von Jakob Böhme evident auch in seinen Gottesbegriff hinein, der, auf einer philosophischen Ebene, ZornesKraft und Liebe, Niederes und Höheres zugleich enthält und somit als coincidentia oppositorum gedacht werden muß. "Aber eben weil sie (die Gottheit; T. A.) die ganze und ungetheilte, das ewige Ja und das ewige Nein ist, ist sie auch wieder weder das eine noch das andere und die Einheit beider. Es ist hier keine eigentliche Dreiheit außereinander befindlicher Principien, sondern die Gottheit ist, als das Eins, und eben weil sie das Eins ist, sowohl das Nein, als das Ja und die Einheit von beiden."76 Es darf aber bei aller ähnlichkeit der Aussagen von Schelling und Jung nicht übersehen werden, daß es sich bei Jungs antinomischem Gottesbild nicht um eine Beschreibung des "Wesens" Gottes handelt, "sondern um die Beschreibung von Entsprechungen, auf die man stößt, wenn man sich vom Bereich des Psychologischen her auf den Gottesbegriff zubewegt."77